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Women’s Health – unerhört vielschichtig

Die Gender Health Gap betrifft Frauen auf der ganzen Welt.
06.01.2022

Kennen Sie die Gender Health Gap? Ich wusste bis vor einigen Monaten nicht, was damit gemeint ist. Es war die besonders unter Gen Z beliebte Plattform TikTok, die mich — weiblich, anfangs 20 — erstmals mit diesem Thema konfrontierte. Das stimmt mich nachdenklich, habe ich doch eine erstklassige Bildung genossen und persönliches Interesse an Gleichstellungsthemen. Dennoch war mir nicht bewusst, dass sich der Unterschied in der Gesundheit von Frau und Mann nicht auf Geschlechtsorgane beschränkt. Ein weit verbreiteter Irrtum.

Im Grunde genommen ist es einfach: Ein weiblicher Körper unterscheidet sich auf viele Weisen von einem männlichen Körper. So kann die gleiche Krankheit je nach Geschlecht zu unterschiedlichen Symptomen führen und dieselbe Behandlungsmethode unterschiedliche Wirkungen aufweisen. Diese Tatsache an sich ist nicht problematisch, solange die Unterschiede bekannt sind und bei Behandlung und Prävention berücksichtigt werden. Um auf mein oben erwähntes TikTok Erlebnis zurückzukommen: Im entsprechenden Kurzvideo erklärt eine junge Frau, dass sich Autismus bei Mädchen ganz anders äussert als bei Jungen und oftmals nicht oder sehr spät diagnostiziert wird. Sie selbst hat erst im Alter von 15 Jahren von ihrem Autismus erfahren. Der Grund: die allermeisten Studien zu Autismus im Kindesalter berücksichtigen vorwiegend Jungen. Hier sind wir bei einem der grossen Ursachen der Gender Health Gap angelangt. Seit Jahrzehnten werden klinische Studien vorwiegend an Männern durchgeführt, was bedeutet, dass der Grossteil des modernen medizinischen Fortschrittes auf Erkenntnissen basiert, die auf Männer zutreffen. Folgen für Frauen sind stärkere Nebenwirkungen nach der Einnahme von Medikamenten, unangemessene Medikamentendosierungen und Falschdiagnosen. Für letzteres stellen Herz-Kreislauf-Erkrankungen ein gutes Beispiel dar. So werden Herzinfarkte bei Frauen weniger rasch erkannt, weil sich die typischen Symptome von denen der Männer unterscheiden. Der wohl bekannteste Fall einer problematischen geschlechtsspezifischen Überdosierung ist der des häufig verschriebenen Schlafmittels Zolpidem. Erst eine Reihe an morgendlichen Autounfällen von Frauen, welche am Vorabend Zolpidem eingenommen hatten, führte dazu, dass heute für Frauen eine deutlich geringere Dosis empfohlen wird.

Wie lässt sich ein Ausweg aus dieser Situation finden? Zuerst einmal müssen Bewusstsein und Kenntnis in der Gesellschaft und besonders in medizinischen Kreisen gestärkt werden. Es soll zum Allgemeinwissen gehören, dass Frauengesundheit mehr beinhaltet als Geschlechtsorgane und Hormonzyklen. Einige Fortschritte gibt es bereits. So bieten die Universitäten Zürich und Bern in Zusammenarbeit neu einen CAS-Weiterbildungsstudiengang in Sex- and Gender-Specific Medicine an. Die Thematik ist auch in der Schweizer Politik angekommen. Ein parlamentarischer Vorstoss forderte 2020 die Untersuchung der Situation in der Schweiz, woraufhin sich der Bundesrat bereit erklärte, einen Bericht auszuarbeiten. Bewusstsein allein reicht aber nicht. Um die Wissenslücke zu schliessen, benötigt es Daten, das Sammeln und Auswerten derer wiederum Zeit. Institutionen müssen sich aktiv dafür einsetzen, dass spezifisch weibliche Bedürfnisse schon im Forschungsstadium berücksichtigt werden und Fälle wie die des erwähnten Medikamentes Zolpidem verhindert werden. Und wir brauchen wohl Geduld und die Ausdauer, die Relevanz des Themas immer wieder zu betonen.

Bemerkung: Die geschlechtsspezifischen Worte «Frau», «Mann» und «Geschlecht» etc. werden in diesem Text in ihrer medizinischen Bedeutung verwendet.

Sources:
The Future of Health is Female. Deloitte (2021).
Righting the gender imbalance in autism studies. (2019)
Closing the Gap: Addressing Gender Inequities in Healthcare. (2020)
Why Medicine Often Has Dangerous Side Effects for Women | Alyson McGregor | TED Talks. (2015)
WHO-Strategie zeigt Hindernisse und Lösungsansätze auf dem Weg zu mehr Gesundheit für Frauen auf. (2016)
Gendermedizin: Patientinnen unterscheiden sich von Patienten. Nicole Steck, Lisa Marxt, Daniel Candinas, Beatrice Beck Schimmer, Catherine Gebhard. (2020)

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