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«Ein Wohlfahrtsstaat funktioniert nicht mehr, wenn es zu viele Trittbrettfahrer gibt»

Mediziner oder Medizinerin mit Covid-Impfung Spritze in der Hand.
04.01.2022

Vor genau einem Jahr begann in Deutschland das Impfen gegen Covid-19. Die Verhaltensökonomin Tarja Zingg erklärt, wie Impfskeptiker jetzt noch umgestimmt werden könnten und was sie in der Pandemie über menschliches Verhalten gelernt hat.

Die Schweizer Verhaltensökonomin Tarja Zingg studierte Volkswirtschaftslehre und Kommunikationsdesign an den Universitäten Zürich, Berkeley und Melbourne. In ihrer Heimat betreibt sie eine Marketing- und Designagentur für Krankenhäuser, Heime und Arztpraxen. Vor einem Jahr prognostizierte sie, eine Quote von 70 Prozent Doppeltgeimpfter sei zu optimistisch. Es ist genau die Schwelle, über die Deutschland seit Wochen nicht hinauskommt. Im Interview mit der WirtschaftsWoche spricht Zingg darüber, warum sie mit ihrer Annahme nur halb richtig lag, welche Gamechanger es für Impfgegner noch geben könnte.

WirtschaftsWoche: Haben Sie in Ihrem Umfeld viele Menschen, die noch ungeimpft sind?
Tarja Zingg: Wenige.

Verstehen Sie Leute, die sich gegen die Impfung entscheiden, obwohl die Pandemie mehr denn je eine kollektive Kraftanstrengung ist?
Obwohl ich mich als liberale Person einschätze, nimmt meine Toleranz und die vieler Geimpfter gegenüber Ungeimpften und solchen, die sich nicht testen lassen, ab. Gleichzeitig stört mich aber der zunehmende Fundamentalismus auf allen Seiten. Die lange Dauer der Pandemie hat Nebeneffekte auf unsere Gesellschaft: Die mentale Gesundheit der Bevölkerung nimmt ab, es gibt Personalabgänge in den Krankenhäusern, erzwungene Kurzarbeit und verschobene medizinische Eingriffe, die mir Sorgen bereiten.

Handeln Ungeimpfte egoistisch?
Für mich persönlich ist bei ansteckenden Krankheiten – und jetzt nach den vielen Impfdurchbrüchen noch klarer – eine Impfung neben dem Selbstschutz auch ein Akt der Solidarität. Wer sich in dieser Pandemie nur um seine eigenen Interessen kümmert, den nennen wir in der Ökonomie einen Trittbrettfahrer. Er profitiert vom solidarischen Verhalten anderer.

Was heißt das konkret?
Vereinfacht gesagt: Geimpfte stellen sicher, dass das Gesundheitssystem durch Coviderkrankungen nicht noch stärker belastet wird und Intensivbetten und das Personal auch noch Schwerstkranken oder schwer Verunfallten in genügender Zahl zur Verfügung stehen. Ungeimpfte sollen und dürfen aber bei einem schweren Covidkrankheitsverlauf nicht ausgeschlossen werden von der Zulassung in die Intensivpflegestation. Unser Krankenversicherungssystem fußt auf dem Solidaritätsprinzip: Die Gesunden helfen den Kranken und finanzieren sie. Die medizinische und pflegerische Behandlung eines intubierten Covid-19-Patienten auf der Intensivpflegestation kostet durchschnittlich aber über 100.000 Franken. Das belastet die Kliniken finanziell. Ein Wohlfahrtstaat funktioniert nicht mehr, wenn es zu viele Trittbrettfahrer gibt.

Was haben Sie in dieser Pandemie über das Verhalten von Menschen und Gruppendynamiken neu gelernt?
Krisen fördern fundamentalistisches Verhalten. Gleichzeitig aber müssen wir in einer Pandemie das gesamte Ökosystem betrachten: Was wirkt wie und hat wo mittelfristig welche Nebenwirkungen? Als liberale Ökonomin glaube ich nach wie vor an das Prinzip der «Freiheit auf dem Markt in Verbindung mit dem sozialen Ausgleich».

Frau Zingg, schon vor einem Jahr haben Sie gesagt, dass eine 70-prozentige Impfquote kaum zu erreichen sei. Heute stagniert die Quote der Doppeltgeimpften in Deutschland ziemlich genau auf dieser Schwelle. Als Begründung für Ihre Zurückhaltung nannten Sie damals die Kluft zwischen Absichtserklärung und Umsetzung, also dass viele Leute ihren Worten keine Taten folgen lassen. Sehen Sie das heute auch noch so?
Ich habe wohl die Zahl der harten Impfskeptiker und ‑gegner etwas unterschätzt. Allerdings liegt der Bevölkerungsanteil der Menschen unter 20 bei rund 20 Prozent. In dieser Gruppe ist die Impfquote noch sehr niedrig.

Ich habe den Eindruck, die meisten der Ungeimpften handeln aus Überzeugung, indem sie nichts tun. Kann man diese Menschen noch erreichen?
Ich weiß es nicht. Unter der Prämisse der Freiwilligkeit ist die Frage: Gibt es noch Instrumente und Maßnahmen, die noch nicht oder ungenügend eingesetzt wurden, um die harten Impfgegner umzustimmen?

Und?
Die freiwillig Geimpften, solche die sich selber schützen und solidarisch handeln wollen, haben wir schon erreicht. Gleichzeitig informieren wir weiter über das Virus, die Krankheit, die Impfung und Long-Covid, um Wissenslücken zu schließen. Das erreicht die Verunsicherten. Wir setzen emotionale Anreize über Vorbilder, denen man nacheifern will, und monetäre Anreize über Geld-Geschenke, die Unentschlossene animieren sollen. Und dann gibt es sanktionierende Regeln wie 3G, 2G, 2G+ und teilweise eine Impfpflicht in bestimmten Berufen. Das ist theoretisch das korrekte Vorgehen, um die maximal mögliche Anzahl Personen zu erreichen.

Fällt Ihnen noch etwas ein, was wir noch nicht haben, uns in Zukunft aber zur Verfügung stehen könnte?
Ein neuer Wirkstoff, der nicht auf der mRNA-Technologie basiert, sondern auf langjährig bewährten Techniken wie den meisten Grippeimpfstoffen, oder ein neues Covidmedikament könnte die Lage natürlich ändern. Eine große Wirkung hätte es sicher auch, wenn Leitfiguren der harten Impfgegner sich impfen lassen und dies propagieren würden.

Die Schweiz hat mit die tiefste Impfquote in Europa. Woran liegt das?
Das erstaunt mich auf den ersten Blick auch, wir haben eigentlich großes Vertrauen in unsere Regierung. 2018 hat aber eine internationale Umfrage gezeigt, dass die Schweiz zu den Ländern mit der größten Impfskepsis gehören: 22 Prozent der Befragten fanden damals schon die Aussage «Impfstoffe sind sicher» nicht oder wenig zutreffend. Allerdings kam in dieser Studie Frankreich mit 33 Prozent an erster Stelle – und in Frankreich haben 78 Prozent mindestens eine Corona-Impfdosis bekommen. Frankreich ist jedoch ein zentralistisch gelenkter Staat, der früh den Covid-Gesundheitspass eingeführt hat. Der Föderalismus, die direkte Demokratie und das Subsidiaritätsprinzip in der Schweiz dagegen sorgen vielleicht für Nachhaltigkeit, aber nicht für Geschwindigkeit.

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